Was tut so eine Cailb, wenn sie nicht gerade studiert? Natürlich noch mehr schreiben! Wahlweise an einer Fantasy-Triologie, oder Kurzgeschichten, und für neugierige Nasen gibt’s nun eine Probe von Letzterem:
Mitternachtsfahrt
Eigentlich hätte ich heute Nacht ja lieber in einer Herberge geschlafen, aber da es die nächsten hundert Meilen weit nur eine bezahlbare Gelegenheit gab, verzichtete ich darauf. Ich wollte nicht riskieren nach Einbruch der Dunkelheit noch auf den schmalen, unübersichtlichen Straßen unterwegs zu sein, bloß um möglicherweise irgendein armes Schaf zu überfahren. Stattdessen hatte ich meine geliebte Klapperkiste auf einem schmalen Stück Wiese am Fahrbahnrand geparkt. Dicht daneben ein kleiner Birkenhain, der sich in den Schutz einiger Felsbrocken schmiegte, wie eine Insel in all der ewigen Weite aus hartem Gras, übersäht von flechtenbedeckten Steinen, abgefressen von den tausenden Wolltieren, die hier den größten Teil ihres Lebens ungestört von Menschen verbrachten.
Trotzdem, nein, eigentlich gerade deswegen, mochte ich die Highlands, in ihrer ganzen rauen, windigen Schönheit, die perfekt dafür schien mir den Kopf freizublasen, und die Tagesplanung auf das Essentielle zu reduzieren: Essen, Trinken, Schlafen, Weiterkommen. Besonders mochte ich die glasklaren Seen und die Zeiten, in denen die tiefliegende Sonne einen goldenen Schimmer über die Halme warf. Ansich hatte ich irgendwo zwischen den Bäumen mein Zelt aufschlagen wollen, mich aber eingedenk der eisigen, scharfen Böen, die mir schon tagsüber um die Ohren gepfiffen waren, kaum, dass ich ausgestiegen war, umentschieden. Zumal sich die Gegend als teilweise recht sumpfig erwies. So würde es zwar etwas eng in meinem winzigen Polo werden, dafür aber allemal wärmer.
Am späten Nachmittag hatte ich mich bereits in einem Supermarkt – sofern man das Hinterzimmer von Post und Bank gleichzeitig, ausgestattet mit vier Holzregalen, darin die spärlichen Waren, als solchen bezeichnen mochte – mit allem Nötigen eingedeckt. Dabei war ich aufs Argwöhnischste von der Dame hinter der Ladentheke beäugt worden, mit einem Blick, der zunächst jeden Fremden als potentiellen Störenfried einordnete. So saß ich nun zurückgelehnt auf dem Beifahrersitz und beobachtete, ein Brot mit Käse und Tomaten essend, wie sich die Dämmerung sacht wie ein Vorhang über das Land senkte. Langsam wurden Bäume, Steine und Schafe von aufsteigendem Nebel eingehüllt, der sich in den Ästen verfing und die Welt um mich herum in ein dunkles Märchenland verwandelte. Währenddessen ging ein schöner, voller Mond am Himmel auf, um alles in seinem sanften Licht zu baden.
Gerade machte ich eine Pause, um möglichst poetische Worte für die Beschreibung der Landschaft in meinem Reisebericht zu finden, da sah ich ein Licht in einiger Entfernung auftauchen. Einen Augenblick lang fragte ich mich ob es hier oben wohl Irrlichter gab, doch schließlich sah ich den Schein stärker werden, näher kommen, und bemerkte auch, dass es gleich vier helle Punkte waren. Irritiert starrte ich hinaus und erkannte, dass es sich um Radfahrer handelte - alle trugen eine Stirnlampe und waren in eiligem Tempo die Straße hinab unterwegs. Noch während ich mich fragte, wie verrückt man sein musste, um kurz vor Mitternacht, bei der Kälte und mit einer solchen Geschwindigkeit durch die Highlands zu jagen, auf einer Straße, die so voller Schlaglöcher war, dass sie kaum den Namen verdiente, rauschten sie vorbei. Selbst tagsüber und mit dem Auto traute ich mir hier kaum mehr als 40 Stundenkilometer zu, dachte ich kopfschüttelnd, als ich ihnen noch eine Weile verwundert hinterhersah, dann beschloss, dass Schotten eben seltsam waren, mich in Decke und Schlafsack wickelte, und zu schlafen versuchte. Naja, vielleicht gab es ja irgendwo einen Wettkampf, oder so etwas.
Irgendwann wachte ich wieder auf, frierend, trotz der dicken Verpackung, und fragte mich, was mich wohl geweckt hatte. Vielleicht der beunruhigende Traum, an den ich mich nur noch fetzenweise erinnern konnte. Oder das Licht, das ich zunächst den Gestirnen zuschob. Doch dann… blinzelnd versuchte ich etwas durch die beschlagenen Scheiben zu erkennen, es wurde heller, und plötzlich erkannte ich die Silhouetten von Fahrradfahrern, erneut vier an der Zahl, und da auch schon an mir vorbei, wieder in der Dunkelheit verschwindend. Ich ließ mich zurücksinken, viel zu müde, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Erneut versuchte ich in Morpheus Arme zu entkommen, doch ich wälzte mich hin und her, fand keine Ruhe, und mir schien als vergingen Stunden. Irgendwann gab ich es auf, zog mich an und stieg aus, ungeachtet der Kälte, die mir gleich unter die Haut fuhr. Mit steifen Fingern zündete ich mir eine Zigarette an, doch meine Gedanken blieben bei den nächtlichen Radlern – irgendetwas, ein unbestimmtes Gefühl, störte mich an der Sache. Der Mond hatte sich hinter ein paar heraufgezogenen Wolken versteckt, und ich stand in tiefster Finsternis da.
Doch plötzlich, als hätte ich sie mit meinen Überlegungen heraufbeschworen, sah ich ein Leuchten am Horizont, ganz schwach. Das konnte doch nicht wahr sein. Ohne zu wissen warum mich ein paar durchgeknallte, insomne Sportfreaks so verstörten, zog ich mich schaudernd zwischen die Bäume zurück, so dass man mich vom Weg aus unmöglich erkennen konnte. Als sie näher kamen lief es mir kalt den Rücken hinunter, ich konnte nicht genauer bezeichnen was es war, aber etwas an ihrer Haltung, an ihren Bewegungen, wirkte unnatürlich. In dem Moment schob sich der Mond hinter den Wolken hervor, und was ich in seinem fahlen Licht erblickte, presste mir den Atem aus der Lunge, ließ mein Blut gefrieren: Der Vorderste hatte nur noch ein halbes Gesicht, der Rest des Schädels war eine einzige, offene Wunde. Dem noch Übrigen hatte die Verwesung sichtbar zugesetzt, sie trieb die Wange auf und hatte die Nase einfallen lassen, das Auge schimmerte bläulich-trüb – doch ich hätte schwören können, es starrte mich direkt an! Dann glitt er lautlos an mir vorüber. Der dahinter trat ebenfalls eifrig in die Pedale, mit dem Bein, das ihm blieb, das andere baumelte nutzlos herab, es schien nur noch an zwei Sehnen zu hängen. Zitternd wandte ich mich ab, wie die beiden Anderen aussahen wollte ich um keinen Preis erfahren.
Erst als sie lange vorbei waren, und um mich herum nur noch Dunkelheit herrschte, war ich imstande mich wieder zu bewegen. Dann aber rannte ich die paar Meter zu meinem Auto, warf mich auf den Sitz, packte mit bebenden Händen den Zündschlüssel. Erst nach dem dritten, verzweifelten Versuch erklang das erlösend-vertraute Röhren meiner Rostlaube, dann raste ich auch schon über die Straße, viel zu schnell für ihren Zustand hetzte ich mein Auto grob über die Unebenheiten, merkte nicht einmal, wie die Achsen gequält krachten. Es wurde eine Höllenfahrt, ich bretterte durch die Nacht wie ein Verrückter, und kam nur durch Glück nicht vom Weg ab. Irgendwann sah ich ein Licht, da fuhr es mir erneut durch die Knochen, doch diesmal war es eine kleine Laterne, die vor einem Haus hing. Ich hielt mit quietschenden Bremsen, stolperte mit letzter Kraft auf das Anwesen zu, gegen dessen Holztüre ich dann wie von Sinnen mit den Fäusten hämmerte. Mir war, als hätte mir der reine Anblick der Todesfahrer die Lebensenergie geraubt, als sei ich selbst dem Jenseits nahe.
Ich konnte mein Glück kaum fassen als mir tatsächlich geöffnet wurde, ein älteres Ehepaar in Nachtgewändern vor mir stand, und mich ohne große Worte einließ – ich musste wohl zu mitgenommen ausgesehen haben, um eine Gefahr darzustellen. Mühsam, keuchend, und in wirren, unzusammenhängenden Sätzen brachte ich das Geschehene heraus, unfähig mich zu setzen lief ich in der fremden Stube auf und ab, ungeachtet meiner Unhöflichkeit mich nicht einmal vorzustellen. Doch erstaunlicherweise verwies man mich nicht der Tür oder bezichtigte mich der Geisteskrankheit. Stattdessen drückte mich der unfreiwillige Gastgeber irgendwann sanft in einen Ohrensessel vorm Kamin, in dem knisternd ein beruhigendes Feuer loderte, und gab mir, als ich mich kreidebleich zurückgelehnt hatte, ein Gläschen kräftigen Scotch in die Hand, den ich in einem Zug hinunterstürzte. Er setzte sich und bediente sich ebenfalls, dann hub er mit leiser Stimme an zu erzählen.
So erfuhr ich, dass es vor rund zehn Jahren einen Unfall gegeben hatte, auf eben jener Straße, an der ich mein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Damals hatte eine Gruppe Radfahrer, jahrelange Freunde und mit derselben Leidenschaft gesegnet, jeden Abend spät für das alljährliche Rennen in den Highlands trainiert. Eines unglückseligen Nachts jedoch, sie waren länger als sonst unterwegs gewesen und schon auf dem Rückweg, fuhr ein betrunkener Reisender dieselbe Strecke, viel zu schnell natürlich, und ohne auf die Straße zu achten, obwohl alles wie heute in tiefem Nebel lag. Im Nachhinein sagte man, es habe nicht einmal Bremsspuren gegeben, so plötzlich war es passiert. Zwei der Männer starben in der gleichen Sekunde, einer verblutete auf der Straße und der Letzte begegnete seinem Herrn, bevor er das Krankenhaus erreichte. Der Todesfahrer selbst erlitt nichts als ein paar Prellungen, sowie einen schweren Schock, und gab an sich bis heute nicht an jene verhängnisvolle Nacht erinnern zu können. Seitdem seien die Radfahrer immer zur gleichen Jahreszeit unterwegs, einen ganzen Monat lang fuhren sie zu jeder Stunde diese Strecke, und es wurde berichtet, dass man selbst des Todes war, fuhren sie durch einen hindurch.
Ich wäre nicht der Erste, dem das passiert sei, fügte mein Gastgeber mit bedauerndem Gesichtsausdruck hinzu, ich könne heute Nacht in seinem Gästebett Ruhe finden. Doch morgen solle ich bitte aus der Gegend verschwinden, es wäre einfach kein Ort, der sich für Touristen eigne.